PUBLIKATION GRAZER ARCHITEKTURMAGAZIN GAM.08
ÜBER DAS ARCHITEKTONISCHE POTENTIAL URBANER DICHTE
MÄRZ 2012
«Auf den Punkt […] kommt der Städtebau dort, wo er einen Ort mit einem Haus in Ordnung bringt».[1]
Über die Notwendigkeit baulicher Verdichtung von Städten – oder allgemeiner: der Bedeutung von Dichte für das Urbane – besteht mittlerweile weitum Einigkeit. Doch was meint eine solche Verdichtung? Lassen sich städtebauliche Qualitäten alleine an einem Mehr an baulicher Substanz festmachen? Wohl kaum. Als Gradmesser für städtebauliche Qualität muss vielmehr die bauliche Dichte um zusätzliche Dimensionen erweitert werden. Die Schwierigkeiten eines solchen Versuchs zeigen sich bereits in der begrifflichen Vielschichtigkeit von Dichte: man spricht nicht nur von Bebauungsdichte, sondern auch von Bevölkerungsdichte, Nutzungsdichte, atmosphärischer Dichte usw. Dementsprechend vielgestaltig und unscharf sind denn auch die Definitionen zur Dichte.
Man könnte sogar soweit gehen, Dichte überhaupt als Kriterium für städtebauliche Qualität in Frage zu stellen, denn die richtige Dichte gibt es nicht. Es handelt sich vielmehr um eine relative Bezugsgrösse, die ihren Wert aus dem jeweiligen Kontext einer Kultur, einer Stadt und letztlich sogar dem Quartier bezieht. In letzter Konsequenz legt das den Schluss nahe, dass andere Kriterien – beispielsweise morphologische, typologische, funktionale oder atmosphärische – vorrangig von Bedeutung sind und die bauliche Dichte – von hohem oder niedrigem Ausmass – lediglich das Resultat eines städtebaulichen Konzeptes ist.[2]
Urbane Dichte
Dieser Essay plädiert für den synthetisierenden Begriff der urbanen Dichte. Mit urbaner Dichte ist eine Dichte an Netzwerken und Interaktionen zwischen einer möglichst hohen Zahl verschiedener Akteure gemeint. So können zwar zwischen verschiedenen Dichteformen Korrelationen bestehen – müssen aber nicht; eine hohe Bebauungsdichte erzeugt nicht zwingend eine hohe urbane Dichte. Entscheidend für die urbane Dichte ist der Begriff der produktiven Differenzen: «Urbane Kulturen unterscheiden sich von Dörfern dadurch, dass sie nicht um eine beherrschende Eigenheit herum gebaut sind, sondern um ein Geflecht von inneren Differenzen. Der städtische Raum ist damit genuin heterotopisch und asynchron. Die Schichtung der Stadt in unterschiedliche Zonen, Kulturen und Handlungszusammenhänge allein beschreibt noch keine urbane Qualität. Stadt entsteht gewissermassen in den Wirkungen des Feldes zwischen den Differenzen. In diesem Zwischenraum ist die Wahrscheinlichkeit angesiedelt, dass das Zusammenspiel von unterschiedlichen Kulturen, Gruppen und Produktionsformen eine unerwartete und vielschichtige Dynamik entfacht. […] Die Dynamik urbaner Differenzen ist nie auf Homogenität und Synchronisierung ausgerichtet, sondern allein auf Produktivität von Verschiedenem und auf die Summe der Möglichkeiten, welche sich in Interferenzen verbergen. Da die Entfachung dieser Energien weder vollständig geplant noch umfassend beherrscht werden kann, erfindet sich die Stadt in diesem Kräftespiel dauernd neu.»[3]
Es geht also um eine qualitative Auffassung von Dichte, welche die für urbane Qualitäten verantwortlichen Faktoren synthetisiert: für die Qualität einer Stadt ist einzig deren urbane Dichte von Bedeutung. Selbstredend beschreibt diese Auffassung von Dichte ein von Ideologie befreites Möglichkeitsfeld, das auch Widersprüchliches, Fragmentarisches usw. miteinschließt und zunächst keine bestimmte städtebauliche Form präferiert. Martin Steinmann schreibt bezogen auf die Architektur von Diener & Diener und den Berliner Kontext der 1990er Jahre denn auch, dass der Block lediglich eine Möglichkeit darstellt: «[N]eben der grauen Stadt gehört auch die ville verte zum Bestand von Stadt-Modellen am Ende des 20. Jahrhunderts.»[4] Und: «Es handelt sich um einen Städtebau, der sich der großen bzw. totalen Ordnung verweigert. Eine solche Ordnung ist schwierig geworden; die Verhältnisse sind in der Regel zu stark fragmentiert, wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich.»[5]
Architektonische Potentiale
Auch wenn letztlich die Interaktionen der Akteure einer Stadt den Grad an urbaner Dichte bestimmen, so ist es doch die Architektur, welche dafür den Rahmen – oder bildhaft gesprochen, die Bühne – setzt und die verantwortlichen Faktoren zu integrieren vermag. Stadt und Architektur werden dabei im Sinne Rossis zu praktisch austauschbaren Begriffen.[6] Es wird dabei auch evident, dass sich eine solche Architektur nicht einzig über ihre Flächenkennwerte ausdrückt. Sie muss vielmehr die räumlichen Voraussetzungen schaffen, damit eben diese Interaktion stattfinden kann: die Kommunikation, der Handel, das Spiel, die Kontemplation usw. Diese Forderung ist nicht neu und hat häufig zu einem funktionalistischen Entwurfsverständnis geführt, das quasi von den hier umrissenen Zielvorgaben ausgeht und versucht, diese städtebaulich und architektonisch umzusetzen; urbane Qualität wird dabei als herstellbar verstanden, was zweifellos einen Trugschluss darstellt.
Es wird hier deshalb die Frage aufgeworfen, ob nicht auch anders herum verfahren werden könnte: ist es denkbar, urbane Dichte hypothetisch als gegebene respektive imaginierte Qualität – sozusagen als entwerferische Voraussetzung – anzunehmen und vor diesem Hintergrund den städtebaulichen und architektonischen Entwurf zu entwickeln? Oder anders ausgedrückt: was sind die architektonischen Potentiale urbaner Dichte? Ein solches Entwurfsverfahren kann sowohl vom vorgefundenen Ort als auch der Imagination eines idealisierten Kontextes ausgehen – in jedem Fall geht es um eine Transformation, um ein Überführen oder Freilegen einer spezifischen, städtischen Qualität durch Architektur.
Katalytische Architektur
Eine solche Architektur allgemein zu beschreiben ist unmöglich, da der hier umrissene Ansatz von den spezifischen Gegebenheiten einer Situation ausgehen muss und eine Durchdringung von Stadt, Haus und Grundriss sowohl inhaltlich als auch atmosphärisch voraussetzt. Zur Illustration der formulierten Thesen werden deshalb nachfolgend zwei Projekte aus der eigenen Praxis vorgestellt. Die Projekte besitzen beide den Anspruch, in der Kohärenz von Städtebau, Architektur und Wohnform urbane Dichte nicht herstellen zu wollen, sondern lediglich freizulegen.
Die Voraussetzung bei einem solchen Verfahren ist zunächst eine strukturelle Denkweise. In der Praxis unseres Büros versuchen wir deshalb beim Entwurf, ausgehend vom Kontext und dem gestellten Programm, jeweils ein gedankliches Modell zu entwickeln, das schrittweise und iterativ dazu in eine städtebauliche und architektonische Form übersetzt wird. Bei diesen Modellen handelt es sich wissenschaftstheoretisch um fiktive Modelle, da sie nicht ein Abbild der Wirklichkeit darstellen, nach dem etwas realisiert wird (deskriptiv), sondern in der Imagination entstehen und erst so Erkenntnisse für den Entwurf generieren (präskriptiv). Die Modellbildung ist deshalb vor allem eine heuristische Herausforderung: Welches sind die richtigen Strukturen, Analogien und gegebenenfalls Bilder bezogen auf das Programm und den Kontext? Welche Wesensmerkmale des Kontextes schlummern am Ort, die es mit dem Projekt freizulegen gilt?
Der Kontextbezug ist dabei selten ein typologischer oder morphologischer, sondern wird allgemeiner, umfassender und abstrakter verstanden – gewissermassen als ein Feld von Suggestionen. In den meisten Fällen wird der Kontext sogar wie erwähnt imaginiert und idealisiert und so die Konstruktion desselben zu einem bestimmenden Teil des Modells.[7] Ein ähnliches Verfahren kann man bei Projekten von Alison und Peter Smithson beobachten, wo der Kontext zwar die ersten Anhaltspunkte bietet, diese allerdings weniger auf eine unmittelbare städtebauliche und architektonische Form als vielmehr auf eine modell- oder bildhafte Vorstellung über eben diesen Kontext abzielen: Damit wird dem realen, äusseren Kontext ein imaginärer, innerer Kontext (eine Idee vom Ort) überblendet. Der reale Kontext erhält erst über die Architektur seine eigentliche Prägung: «It would seem as if a building today is only interesting if it is more than itself; if it charges the space around it with connective possibilities.»[8] Der umgebende Raum wird mit verbindenden Möglichkeiten aufgeladen, die Imagination formt den realen Kontext.[9]
Der Charakter und die Beschaffenheit eines solchen Modells sind in unserer Arbeit jeweils von Projekt zu Projekt verschieden. Einmal ist eine einzige Idee bestimmend, ein anderes Mal verdichten sich mehrere Themen und treten gleichwertig nebeneinander. Entscheidend für das Gelingen der Modellbildung ist die Sprache. Sie funktioniert einerseits als Operator oder Katalysator, gleichzeitig aber auch als Kontrollinstrument. Die sprachliche Fassung respektive Benennbarkeit eines Modells gibt Aufschluss über dessen Beschaffenheit, Schlüssigkeit, Unschärfe und Bedeutung. Die Form dieser sprachlichen Fassung besitzt dabei vielfach den Charakter einer (kognitiven) Metapher, wobei Modell und Metapher praktisch gleichbedeutend werden. Denn Metaphern machen das Modell erst anschaulich: Ihre katalytische Wirkung beziehen sie aus einem «Vergleich zwischen zwei Ereignissen, welche nicht gleich sind, aber in einer anschaulichen Art miteinander verglichen werden können. Der Vergleich wird meist durch einen schöpferischen Gedanken gefunden, der unterschiedliche Objekte miteinander verbindet und ein neues Bild erfindet, in welches die Charakteristiken beider einfliessen.»[10]
/Beispiel 1: Wohn- und Gewerbehaus Speich-Areal, Zürich-Wipkingen ///
Das erste Beispiel zeigt das Projekt für ein Wohn- und Gewerbehaus in Zürich West. Das Speich-Areal befindet sich zwischen einem Blockrandquartier, einer heterogenen Bebauung um den Wipkingerplatz, der Hardbrücke – der einzigen Stadtautobahn in Zürich – und dem Flussraum der Limmat. Das Areal ist einer Quartiererhaltungszone zugeordnet, welche im hangaufwärts gelegenen Blockrandquartier begründet liegt und wesentliche baugesetzliche Vorgaben für das Projekt setzt. Heute ist das Areal mit einzelnen, kleinen Gebäuden besetzt und wenig genutzt.
Die Vorstellung des Entwurfs zielte auf ein städtisches Gebäude, das den Anforderungen der Quartiererhaltungszone gerecht wird und gleichzeitig über eine ausdrucksstarke, janusköpfige Lösung den jeweils anders gearteten Stadtseiten ein neues Gepräge geben kann. Das Projekt trägt diesen Bedingungen mit einem Volumen Rechnung, das in seiner expressiven Gestalt und mittels zweier unterschiedlich formulierter Seiten eine hohe Präsenz und Eigenständigkeit aufbaut, dabei aber gleichzeitig eine vermittelnde Funktion erfüllt. Damit ist insbesondere die Kopfausbildung zum Wipkingerplatz gemeint, welche die Kraft besitzt, diesem Ort eine neue Identität zu geben. Auf der Seite der Hönggerstrasse knüpft der Neubau in seinem Ausdruck an die quartiertypischen Blockrandbauten an, die über eine klassische Gliederung in Sockel, Regelgeschosse und Attika sowie architektonische Elemente wie Erker und Dachterrassen verfügen. Sie wird mit einer plastischen Verwischung oder Verschmelzung der drei Bereiche überformt, die wesentlich zur Expressivität und der am Ort geforderten Ausdruckskraft beiträgt. Auch die Befensterung sucht eine Nähe zum Bestand. Gleichzeitig überführen die liegenden Lochöffnungen, welche zum Platz hin zu bandartigen Fenstern wechseln (Büronutzung), den Ausdruck in eine zeitgemässe Architektursprache. Auch die äussere Materialisierung mit leicht glänzender Keramik – in seiner Farbe an die typischen, ockerfarbenen Backsteine erinnernd – folgt dieser Absicht, kontrapunktiert respektive entmaterialisiert aber durch je nach Tageszeit unterschiedliche Lichtreflexionen die relative Massigkeit und Schwere des Körpers.
Auf der Flussseite wird durch eine feine Terrassierung des Gartens, die Ausbildung der Hofgebäude als Gebäudesockel sowie Balkone und Dachterrassen ein wiederum eigener Charakter erzeugt, der als vertikaler oder hängender Garten gelesen werden kann. Diese Idee wird mit der Vorstellung eines Grünraums überlagert, der sich sukzessive mit der Höhe kultiviert, das heißt von der wilden Natur des Flussraumes in einen immer künstlicheren Aggregatzustand übergeht. Mit dieser Entwicklung geht eine zunehmende Privatisierung der Grünräume einher: auf die untersten Bereiche am flussbegleitenden Weg, die im Zusammenspiel mit einer Lokalnutzung im Hofgebäude und der Wegverbindung ins Quartier durchaus öffentlich zugänglich sein können, folgen gemeinschaftliche Bereiche für das gesamte Haus.
Städtische Mischnutzung
Das Erdgeschoss vermittelt zwischen Strassen- und Flussseite: die hier angeordneten Offenen Räume verfügen zur Straße hin über öffentliche Raumbereiche mit Schaufenstern, die sich zum Garten und Fluss in einer Zweigeschossigkeit öffnen und sukzessive privatisieren lassen. Damit lassen sich diese Räume sowohl als Läden wie auch als Ateliers mit Wohnnutzung einrichten. Im bestehenden Hofgebäude, das am öffentlichen Durchgang respektive der Wegverbindung zum Fluss liegt, wird ein Atelier sowie flussseitig ein kleines Lokal mit Terrasse – beispielsweise eine Gelateria für die sommerlichen Nutzer des Flussraumes – vorgeschlagen. Das Atelier könnte periodisch an einen Artist in Residence vergeben werden, um dem Ort eine Magnetkraft zu geben.
Über dem Erdgeschoss folgen drei identische Regelgeschosse, mit jeweils angemessen großen und von der Zimmeranzahl unterschiedlichen Wohnungen sowie einer gut unterteilbaren Gewerbefläche im Gebäudekopf. Die Wohnungsgrundrisse bieten einen großen, räumlichen Reichtum und verschiedene Nutzungsmöglichkeiten. Die Layouts reagieren zudem auf die schwierigen Bedingungen des Lärmschutzes: ein offenes Zimmer auf der Flussseite, welches verschieden genutzt wie auch dem Wohnen zugeschlagen werden kann, erlaubt die Reduktion auf wenige Zimmer zur Hönggerstrasse hin, die über Erker und Einschnitte seitlich gelüftet werden. Die mit dem dritten Treppenhaus erschlossenen Gewerbeflächen lassen sich aufgrund der Skelettbauweise flexibel in zwei, drei oder mehr Einheiten unterteilen.
Im Attikageschoss reduziert sich die Anzahl der Wohnungen von sechs auf vier Einheiten. Über den Gewerberäumen werden im Attika sogenannte Junge Räume angeboten, deren Ausbau ebenfalls verschiedene Optionen offen hält. Die Attikawohnungen sowie die Jungen Räume verfügen über einen wohnungsinternen Aufgang auf eine private Dachterrasse, welche die Außenräume auf Wohnungsniveau ergänzen. Zwei weitere Dachterrassen sind aus den Treppenhäusern erschlossen und können von sämtlichen Bewohnern genutzt werden. Die teilweise begrünten Dachterrassen komplettieren die Idee des vertikalen Gartens auf der Flussseite.
/Beispiel 2: Wohnungsbau Avellana, Zürich-Schwamendingen ///
Das zweite Beispiel zeigt das Projekt für ein Wohnhaus in der Kernzone von Schwamendingen. Es umfasst einen Neubau mit dreizehn Wohnungen sowie einen Ersatzneubau des Ökonomieteils eines alten Bauernhauses an der Winterthurerstrasse mit vier Wohnungen. Schwamendingen, im Norden von Zürich gelegen, wurde 1934 eingemeindet und danach zu einem Zentrum der Stadterweiterungen unter Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner in den 1940er und 1950er Jahren.[11] Diese Stadterweiterungen folgten der Ideologie wenig dichter, dafür stark durchgrünter Gartenstadtsiedlungen. Der dominante Gebäudetyp ist der Zeilenbau. Obschon zur Zeit viele dieser Siedlungen durch dichtere Neubauten ersetzt werden, hat Schwamendingen seinen Charakter als Gartenzimmer von Zürich[12] erhalten können.[13]
Das Projekt Avellana befindet sich in der Kernzone von Schwamendingen am Rande der erwähnten Stadterweiterungen sowie am nördlichen Fuß des Zürichbergs mit seinen bewaldeten Hängen. Das alte Dorfzentrum von Schwamendingen konzentrierte sich auf einer Geländeterrasse am Hangfuss. Reste dieser Dorfstrukturen befinden sich südlich und westlich des Schwamendingerplatzes zwischen Herzogenmühle- und Bocklerstrasse. Hier haben sich ganze Gruppen ländlicher Bauten erhalten. Der Bauplatz liegt rückwärtig, quasi in der zweiten Reihe als Gartengrundstück versteckt hinter Straßen zugewandten, alten Gebäudestrukturen. Das Projekt interpretiert in der volumetrischen Entwicklung wie im architektonischen Ausdruck diese spezifische städtebauliche Situation: auch hier geht es um eine Freilegung der in dieser spezifischen Situation schlummernden Qualitäten. Vorgeschlagen wurde ein lediglich zweigeschossiger, flach gedeckter und damit niedriger Baukörper, der sich den Strassen bezogenen, repräsentativen Bauten typologisch unterordnet. Er tritt gleichsam als Hof- oder Gartengebäude in Erscheinung. Das Volumen entwickelt sich dabei in der Fallrichtung des Hanges und nimmt Bezug zum Bachlauf sowie den Straßen begleitenden Gebäudereihen an der Bocklerstrasse.
Die relative Länge des Volumens wird mehrfach gebrochen, wobei der Körper auf die jeweiligen Seiten von Dorfbach und Gartenhof unterschiedlich reagiert. Zum Bach hin gliedert sich das Volumen durch feine Knicke und Brüche, wie beispielsweise den Einzügen der offenen Erschliessungen. Auf der Gartenseite ist die Abwicklung ausgeprägter: das Volumen ist hier nicht mehr in seiner Ganzheit erfassbar, vielmehr entsteht der Eindruck einzelner Baukörper. Damit fasst das Gebäude auf der einen Seite den Weg- und Bachraum neu und reagiert gartenseitig auf die dispersen Hofstrukturen mit seinen Gärten und Kleinbauten.
Informelle, schuppenartige Gartenarchitektur
Auch in Bezug auf den architektonischen Ausdruck ordnet sich der Neubau dem Altbau an der Winterthurerstrasse unter; zusammen bilden sie ein Ensemble von Strassen bezogenem, repräsentativem Hauptbau und hofseitigem Nebengebäude. Dabei knüpft das Projekt inhaltlich und atmosphärisch an derartige Schuppen oder Ökonomiegebäude an. Entscheidend erscheint hierbei das weiche, hölzerne Fassadenkleid sowie das flach geneigte Dach, dessen teilweise fallende Giebel und Traufen Assoziationen zu spontan gewachsenen, mehrfach transformierten Strukturen hervorrufen. Im Weiteren haben die Komposition der Fenstersetzungen sowie die Farbigkeit und konstruktive Detaillierung ihre Bedeutung hinsichtlich des gesuchten Ausdrucks.
Der Neubau wird vom Bach begleitenden Fußweg aus über zwei offene Treppenhäuser erschlossen. Das südliche Treppenhaus erschliesst je zwei Wohnungen pro Geschoss. Über das nördliche Treppenhaus sind jeweils vier Wohnungen pro Geschoss erschlossen. Zusammenhängende, großzügige Wohn- und Essräume bilden jeweils das Zentrum der Wohnung, von wo aus sämtliche Zimmer erschlossen werden.
Das Aussenraumkonzept nimmt die Zweiseitigkeit des Neubaus auf. Auf der Bachseite wird der Kiesbelag bis ans Gebäude herangezogen; der Weg wird lediglich durch einzelne Zwergweiden und Tulpenflecken informell vom Vorbereich des Hauses getrennt. Hier verwischen sich die Grenzen gemeinschaftlicher und privater Nutzung. Birken und Weiden ergänzen die Bachvegetation. Auf der Gartenseite ist die Nutzung stärker privatisiert. Obstbäume wecken hier Assoziationen an frühere Zeiten.
Unterschiedliche Dichteformen
Beide Projekte verdichten baulich die jeweilige Situation nach Innen. Im einen Fall wird ein heute wenig genutztes, praktisch brach liegendes, innerstädtisches Areal mit einem grossen Neubau und einer städtischen Mischnutzung besetzt. Im anderen Beispiel wird ein bisher nicht bebautes Gartengrundstück im Rücken von ehemaligen Bauernhöfen mit einem kleineren Wohnhaus bebaut. Trotz der Einsicht, dass eine solche Verdichtung aus bekannten Gründen sinnvoll ist, lag die treibende Kraft der Entwürfe woanders: nämlich bei der Entwicklung einer Vorstellung, welche die spezifischen Merkmale der jeweiligen Situation in eine ebenso spezifische Architektur überführt respektive eine Architektur erzeugt, welche die Qualitäten dieser Merkmale in Ovidschem Sinn sicht- und erlebbar macht.[14] Zu diesen «Merkmalen» gehört ganz wesentlich der Mensch, der in Zukunft dort wohnt, arbeitet oder flaniert. Und dieser Mensch soll in Zürich-Schwamendingen eine andere urbane Dichte vorfinden als in Zürich West.
[1] Zitat Roger Diener, aus: Roger Diener/Martin Steinmann: Das Haus und die Stadt. Diener & Diener – Städtebauliche Arbeiten, Basel 1995, S. 11.
[2] Vgl. Robert Kaltenbrunner: „Urbane Kondensation. Ein Streiflicht zur Frage der Dichte im jüngeren Städtebau”, in: Archithese 3 (2011), S. 33f.
[3] Roger Diener/Jacques Herzog/Marcel Meili/Pierre de Meuron et al. (Hg.): Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, Basel 2005, S. 116.
[4] Diener/Steinmann: Das Haus und die Stadt, S. 9 (wie Anm. 1).
[5] Ebd., S. 15.
[6] Vgl. Ueli Zbinden/Aldo Rossi (Hg.): Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, München 1998.
[7] Vgl. „Die Rationalisierung des Bestehenden. Oswald Mathias Ungers im Gespräch mit Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist”, in: ARCH+ 179 (2006), S. 6–11.
[8] Alison Smithson/Peter Smithson: Without Rhetoric. An Architectural Aesthetic 1955-1972, Cambridge 1974, S. 36.
[9] Vgl. Elli Mosayebi/Christian Mueller Inderbitzin: Picturesque – Synthese im Bildhaften, Zürich 2008, S. 38–47.
[10] Oswald Mathias Ungers: Morphologie. City Metaphors, Köln 2011, S. 10.
[11] Vgl. Werner Oechslin (Hg.): Albert Heinrich Steiner 1905–1996. Architekt – Städtebauer – Lehrer, Zürich 2001.
[12] Vgl. Iris Reuther/Angelus Eisinger: Zürich baut – Konzeptioneller Städtebau, Basel/Boston/Berlin 2007.
[13] Das Büro des Autors ist mit zwei weiteren Projekten in Zürich Nord an diesem Stadtumbau beteiligt, nämlich der Wohnsiedlung Brüggliäcker der Wohnbaugenossenschaft Bahoge 2009-2013 sowie der Wohnsiedlung Am Katzebach der Wohnbaugenossenschaft BGZ 2010–2019.
[14] In den Metamorphosen von Ovid legt die Verwandlung stets den Kern des Charakters, das eigentliche Wesen frei: „Das Fundamentale lebt auch in der neuen Erscheinung fort und bestimmt sie. In der neuen Erscheinung tritt das Eigentliche viel stärker hervor und ist meist sinnvoller als das bisherige“. (aus: Heinrich Dörrie: „Wandlung und Dauer. Ovids Metamorphosen und Poseidonios’ Lehre von der Substanz“, in: Der altsprachliche Unterricht, 4,2 (1959), S.95–116, hier S. 97.)