Stadt ohne Körper?

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PUBLIKATION ENGADINER POST, 15. JANUAR 2009
STADT OHNE KÖRPER?
VERSUCH ÜBER DIE SPEZIFISCHE RÄUMLICHKEIT DER
TEMPORÄREN STADT OBERENGADIN

Traditionelle Städte manifestieren sich in einem physisch erfahrbaren «Stadtkörper». Welche räumliche Charakteristik zeichnet die Temporäre Stadt Oberengadin aus, deren Strukturen sich bezüglich ihrer Kapazität mit denen einer mittelgrossen Schweizer Stadt vergleichen lassen? Handelt es sich bei der Temporären Stadt Oberengadin um einen neuen, zukünftigen Stadttyp?

In einer globalisierten Welt, in der Mobilität und urbane Lebensformen überall zu konstituierenden Kräften geworden sind, entwickeln Städte zweifelsfrei unterschiedlichste Ausprägungen und Erscheinungsformen. Trotz grosser Mobilität und zunehmend virtuelleren Kommunikationsformen scheint unsere Erfahrung zu belegen, dass sich Stadt noch immer räumlich ausprägt, ja sogar in einem physisch erfahrbaren Stadtkörper manifestiert. Mit dieser Vorstellung assoziieren wir Gebäudevolumen, Strassen, Plätze und Parks, welche ein Innen und Aussen, einen privaten und einen öffentlichen Raum schaffen. Wie verhält es sich damit in der «temporären Stadt» Oberengadin? Immerhin verfügt dieser Raum über Strukturen, welche während der Hochsaison rund 100’000 Menschen und ein beträchtliches Verkehrsvolumen aufzunehmen vermögen, sich hinsichtlich der Bevölkerungszahl also mit einer mittelgrossen Schweizer Stadt vergleichen lässt. Kann, bei dem was sichtbar wird und in unserer Wahrnehmung hängen bleibt, von einer gebauten Stadt, einem «Stadtkörper» gesprochen werden?

Verschiedene Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Temporäre Stadt Oberengadin eine «Stadt ohne Körper» ist, eine Stadt also, die ihre Substanz tarnt, ausblendet, verfremdet und negiert. Das klingt zunächst unwirklich und paradox, schliesslich sind die erwähnten Strukturen alle gebaut und damit real. Weiter mag eine solche These erstaunen, wenn sich der Blick auf die alte Bausubstanz richtet. Die Engadiner Häuser früherer Jahrhunderte weisen bekanntlich eine ausgeprägte Körperlichkeit auf. Die kleinen Fenster mit ihren plastisch ausformulierten Leibungen bringen in den dicken Mauern Schwere und Masse geradezu beredt zum Ausdruck. Und die hautartigen Blechdächer mit den knappen Dachabschlüssen formen Häuser mit kompakten, teils sogar trutzigen Gebäudekörpern. Vergleichbare Eigenschaften weisen auch die alten Dorfkerne auf. Die Engadiner Dörfer zeichnen sich durch ein äusserst enges Zusammenstehen ihrer Bauten aus, besitzen damit klar gefasste Strassen- und Platzräume und ein deutlich getrenntes Innen (Dorf) und Aussen (Landschaft). Doch behält dies seine Gültigkeit in einer Zeit, wo die bäuerliche Lebensform fast gänzlich verschwunden ist, Zentralheizungen die klimatischen Bedingungen unbedeutend machen und die Spezifik der Architektur zu einem medial und global reproduzierbaren Marketinginstrument einer Tourismusregion geworden ist?

Entscheidender ist vielleicht ohnehin, dass die Temporäre Stadt Oberengadin ihren Ursprung gar nicht in den alten Dorfkernen besitzt, sondern in den grossen Hotelpalästen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese frühen Hotelarchitekturen wurden vielerorts abseits der Dörfer als selbstbezogene Solitäre errichtet. Ihre Dimensionen sind beachtlich und haben die Massstäblichkeit der Orte nicht nur gesprengt, sondern geradezu aufgelöst. Grund dafür ist neben der vielfach isolierten Stellung ihre zeichenhafte Architektursprache, welche die assoziativen Bedeutungsebenen eines Baus vor dessen körperhafte Erscheinung schiebt. Die frühen Hotelbauten wirken nicht als raumbildende Architekturen, sondern funktionieren als isolierte, abstrakt bis skulpturale Zeichenträger. Ihre Bedeutunglosigkeit für die potentielle Formung eines Stadtkörpers wird durch ein anderes Phänomen fast noch stärker bestimmt: nämlich die räumliche Ablösung des Innenraums vom Aussenraum, was wiederum bedingt ist durch die spezifischen Angebote dieser Hotels. Dieses entspricht demjenigen einer kleinen Stadt oder eines Kreuzfahrtschiffes: neben den primären Angeboten der Schlaf- und Wohnräume finden sich Restaurants, Wellness-Welten, Shoppingeinrichtungen, Bibliotheken, Spielräume, Bars und Clubs. Architektonisch sind diese Räume analog dem Äusseren in ihrem Ausdruck autonom gestaltet, sprechen wiederum unterschiedlichste Bedeutungsebenen an und lösen sich so in ihrer Selbstbezogenheit gänzlich von der Umwelt ab. Gäbe es die grossartige Landschaft (mit einer entsprechenden Infrastruktur) nicht, bräuchte der Gast das Hotel gar nicht zu verlassen.

Damit ist ein weiterer, bestimmender Aspekt der spezifischen Räumlichkeit in der temporären Stadt angesprochen: die monumentale Engadiner Berglandschaft mit ihren einprägsamen Silhouetten, dem weiten Talboden und den Seen. Ihre einmalige Schönheit wurde während den vergangenen hundertfünfzig Jahren von Künstlern, Literaten und Liebhabern derart stark ikonografiert respektive in der Gegenwart von Marketingunternehmen instrumentalisiert, dass sie nicht nur in den medialen Bildnissen sondern auch real sämtliche baulichen Strukturen verdrängt und bei den Besuchern wahrnehmungspsychologisch gewissermassen unsichtbar macht. Einzelne Befragungen im Rahmen unserer Untersuchungen haben deutlich gezeigt: kaum jemand ist im Stande, eine stadträumliche Situation zu schildern, während praktisch jeder ungefragt auf die Schönheiten der Landschaft verweist (wobei auch dabei eine allgemeine Vorstellung und keine konkrete Situation gemeint ist). Bildet bei vielen Städten die Landschaft einen eindrücklichen Hintergrund, so besteht in der «temporären Stadt» Oberengadin die radikale Umkehrung. Mehr noch: menschliche Artefakte dienen hier im besten Fall zur Verschönerung der Bergkulisse. Dabei werden sie, wie anhand der Grand Hotels erläutert, auf ihre ikonografische, zeichenhafte Dimension reduziert: ein gelbes Postauto unterstreicht das Grün einer Bergwiese und der Turm des Palace überhöht die weissen Bergspitzen. Die Dominanz der Landschaft bedeutet allerdings nicht, dass die Berge dafür körperhafter wären und Wetter und Naturgewalt gewissermassen spürbar würden. Auch die «Berge» sind nicht mehr als Abbilder einer Wirklichkeit, was sich selbst in unserem alltäglichen Sprachgebrauch niederschlägt – bezeichnenderweise sprechen wir von Bergkulissen. Die technische Beherrschung der Bergwelt mittels Skiliften und anderen Infrastrukturen hat diesen Prozess verstärkt. Die Landschaft setzt sich aus einzelnen Bildern, oft in Form von Aussichten zusammen. Diese schaffen nicht die spezifische Landschaft Oberengadin, sondern ein idealisiertes Abbild davon.

Damit sind die zwei wichtigsten Komponenten benannt, welche die «Stadt ohne Körper» konstituieren: zum einen die autonomen Innenräume, zum anderen die bildhaften Aussichten. Beide Räumlichkeiten greifen untrennbar ineinander und schaffen keinen Stadtkörper, sondern blenden Ansätze dazu vielmehr aus. Verbunden werden die Innenräume dieser Stadt durch kurze Fahrten im Auto oder Zug, deren Fenster wiederum projektive Aussichten in die Bergwelt rahmen: von der Ferienwohnung mit Panoramafenster fährt man in wenigen Minuten in die geschlossene Welt eines traditionellen Kaffeehauses oder in die Lobby eines Grand Hotel mit orientalisierendem Interieur. Im nächsten Innenraum angelangt, erblickt man im Fenster keine Stadt, dafür eine wunderschöne Ebene mit Seen. Im Umkehrschluss lässt sich sagen, dass so etwas wie städtischer Aussenraum oder öffentlicher Raum nicht existiert. Selbst eine beliebte und viel begangene Gasse in einem altern Dorfkern hat letztlich mehr mit einem privatisierten Innenraum gemein als mit öffentlichem Raum. So zeichnen renovierte Sgraffiti und Auslagen mit Nusstorten das perfektionierte, szenografische Bild einer auf touristische Bedürfnisse zugeschnittenen Bergwelt und unterdrücken oder verdrängen dabei die Vielschichtig und Komplexität wirklichen öffentlichen Raumes.

Diese Beobachtung verweist explizit auf den Zusammenhang zwischen dem hier skizzierten räumlichen Charakter der Temporären Stadt Oberengadin und ihrer Funktion als Tourismusdestination. Die meisten Touristen suchen – und das ist ein globales Phänomen – einen Ort mit relativ konkreten Erwartungen auf, die sie in der Regel auch während des Aufenthalts nicht revidieren, sondern vielmehr über selektive Wahrnehmungsprozesse zu bestätigen versuchen. Die Wirklichkeit eines Besuchers wird deshalb durch projektive Momente stark vorgeformt und blendet vieles aus. Anders gesagt bewegen sich die Touristen (aber auch die meisten Lokalen, welche interessanterweise eine ähnliche Wahrnehmung angenommen haben) in einem illusionistischen Raum, der in vielfacher Hinsicht durch ephemere Phänomene geprägt ist. Man könnte ihn deshalb mit einem Festzelt vergleichen, das eigens für eine spezielle Funktion wiederkehrend errichtet, ausgeschmückt und bespielt wird und dann wieder verschwindet. Dieser flüchtige Raum ist für den Moment gebaut und oszilliert zwischen Erwartung und Erinnerung.

Es bleibt zu fragen, ob die hier umrissene Logik eines «städtischen» Raumes eine Ausnahme darstellt, oder ob es sich dabei vielmehr um den Prototypen einer zukünftigen Stadtform handelt? Einiges deutet darauf hin, dass sich die räumliche Wirklichkeit vieler, auch nicht primär von touristischen Phänomenen geprägter Städte in eine durchaus vergleichbare Richtung entwickeln wird. Beispielsweise versuchen im Zuge des sogenannten Standortmarketings immer mehr Städte «Resort»-Qualitäten zu entwickeln (das heisst touristische Attraktivität zu schaffen), um in den einschlägigen Städte-Rankings auch bei den «weichen» Faktoren besser abzuschneiden. Dabei werden ganze Innenstädte denkmalpflegerisch korrekt saniert und zu verlängteren Shopping- und Entertainmentcentern transformiert – gewissermassen ein Innenraum im Aussenraum geschaffen. Weiter ist eine Fragmentierung zu beobachten, welche Stadträume nur noch in einer Art Zapping erfahrbar macht und damit die Lesbarkeit eines zusammenhängenden Stadtkörpers zunehmends auflöst – Stadt setzt sich auch da mehr und mehr aus einzelnen «Zimmern» zusammen, die mit einer möglichst effizienten Verkehrsinfrastuktur erreicht werden. Und schliesslich lässt sich auch die Festzelt-Analogie durchaus auf andere Städte übertragen, denken wir an die immer bedeutender werdendere Eventkultur, welche temporär Stadt in der Stadt herstellt.