PUBLIKATION ZÜRICHSEE-ZEITUNG, 1. NOVEMBER 2005
ROBUSTE SCHÖNHEIT
ÜBER PETER MÄRKLIS ARCHITEKTUR
Der Zürcher Architekt Peter Märkli ist noch immer für viele ein Unbekannter. Sein Werk, sein Denken und seine Person haben ihn dennoch zu einem der wichtigen Schweizer Architekten der Gegenwart gemacht. Mit dem im Sommer eröffneten Schulhaus Im Birch in Zürich Nord ist er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden.
In den Zeitungen ist bis anhin wenig über den Architekten Peter Märkli geschrieben worden. Sein gebautes Werk ist vergleichsweise klein, lange Zeit hatte Märkli ausschliesslich Wohnhäuser bauen können. Erst seit ein paar Jahren sind grössere Projekte in der Ausführung. Zu nennen sind das eben eröffnete Schulhaus Im Birch in Zürich Nord, die neue Orgel im Basler Münster, ein Geschäftshaus am Picassoplatz sowie ein Visitor’s Center für die Novartis, ebenfalls beide in Basel. Am Zürichsee hat Märkli in der Gemeinde Erlenbach ein kleines Wohnhaus gebaut.
Falls er dennoch Aufmerksamkeit in den Medien fand, wurde Märkli gerne als Aussenseiter, Alleingänger oder sogenannter Künstler dargestellt, der ausserhalb der Zeit und auf sich zurückgezogen arbeitet. Dies vielleicht deshalb, weil manche Redaktionen den wirksamen Personenkult der anspruchsvollen Architekturkritik vorziehen, wohl aber auch, weil sich seine Häuser, Projekte und Wettbewerbsbeiträge von der gegenwärtigen Architekturproduktion stark unterscheiden, sich sogar einer Vergleichbarkeit entziehen und buchstäblich alleine dastehen. Das Allein-Sein ist aber bei Märkli nicht Teil einer selbstbestimmten Inszenierung, sondern fremdbestimmte Konsequenz eines allgemeinen inhaltlichen Vakuums in der gegenwärtigen Architektur (man könnte es «Sprachlosigkeit» nennen). Denn Peter Märkli gehört zu den wenigen Architekten unserer Zeit, die gerade nicht das Individuell-Exklusive, sondern das Allgemein-Konstante in der Architektur suchen, um Schönheit zu schaffen.
Sprache in der Architektur
Diese Suche ist mit der Moderne schwieriger geworden. Nicht erst seit dem «kulturellen Nullpunkt» der 1980er Jahre fehlen in der Architektur und den Künsten verbindliche Themen; schon die Werke von Cézanne und Giacometti – die Märkli immer wieder erwähnt – waren herausragende «Einzelleistungen». Ein Maler, ein Bildhauer, ein Architekt muss heute die Themen für seine Arbeit selbst finden. Ein fehlender gesellschaftlicher Konsens verhindert einen kollektiven kulturellen Ausdruck.
Dennoch muss man in Märklis Verständnis davon ausgehen, dass jede künstlerische Disziplin nach wie vor eine eigene «Sprachlichkeit» besitzt. Denn Sprache als etwas Kollektives bedeutet Verständnis, ohne das Architektur kaum denkbar ist. Zur abendländischen Architektursprache gehören grundlegend die primären, euklidschen Geometrien: die Gerade als Horizontale und Vertikale, das Rechteck mit dem rechten Winkel, der Kreis usw. Daraus haben sich in einer langen Bautradition, ausgehend von der griechischen Kultur, die sich über Kolonien und das römische Reich ins gesamte Abendland verbreitete, architektonische Elemente und Typen mit gefestigten und verständlichen Bedeutungen und Inhalten herausgebildet: Platten, Säulen, Türen, Schwellen, Fenster, Treppen usw. Manche Eigenschaften dieser Elemente scheinen für die Wahrnehmung des Menschen immer gleich («universell») zu bleiben, andere ändern und variieren mit dem Zeitgefühl. Ein Haus, an dem jedes architektonische Element in sinnfälliger Beziehung zum anderen steht und wie Märkli sagt «zur Geltung» kommt, kann verstanden, im besten Fall als schön empfunden werden.
Beim Schulhaus in Zürich Nord kommen die einzelnen Elemente zu ihrer Geltung. Die Fassaden sind aus stehenden Lisenen und liegenden Balken aufgebaut und zeigen das alte Bild von Lasten und Tragen. Da wo es in den Fassaden grosse Öffnungen gibt, sind die Balken stärker ausgebildet. Auch das Dachgebälk ist höher bemessen, es schliesst das Volumen zum Himmel hin ab. Die Lisenen fussen auf einer dünnen Platte, die für den Bau einen Ort im Raum definiert. In der feinen Dimensionierung der Lisenen und der Zeichnung der Fugen wird ablesbar, dass die Fassaden vorgehängt sind. Schliesslich zeigen die umlaufend regelmässigen und auf einem Raster aufgebauten Fassaden die innere Struktur der Gebäude an, nämlich eine Skelettstruktur aus Stützen und Platten. Gleichzeitig geben sie den Bauten den Ausdruck einer öffentlichen Anlage.
Öffentliche und private Räume
Die klare Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Räumen ist in Märklis gesamter Arbeit wesentlich. Darin kommt eine unmissverständliche Haltung vom Zusammenleben und der Stadt zum Ausdruck. Für Märkli ist eine «Ansicht von der Welt», das heisst eine Weltanschauung, letztlich eine politische Haltung weitere Voraussetzung, um als entwerfender Architekt überhaupt arbeiten und verändernd eingreifen zu können.
So sind seine frühen Wohnhäuser alle mural, haben Schau- und Nebenfassaden mit Lochöffnungen und gewohnt wird über dem Terrain und der Strasse im Obergeschoss, dem Piano nobile. Die Häuser haben damit ein klares Innen und Aussen und unterscheiden respektive bilden öffentlichen wie privaten Raum. Wohnräume im Erdgeschoss, die heute sogar in der Stadt gebaut werden, gibt es bei keinem seiner Bauten, denn sie privatisieren die an sich gemeinschaftlichen Aussenräume. Auch Häuser ohne Fassaden, etwa ein Terrassenhaus, sind in Märklis Verständnis undenkbar, da sie keinen öffentlichen Raum schaffen.
Die Schule in Zürich Nord, heute noch von Baustellen – einer entstehenden Stadt – umgeben, wird genau dies leisten. Die Anlage ist in alle Richtungen offen und von unterschiedlichen Plätzen mit verschiedenen Eigenschaften umgeben. An den umlaufend gleichen Fassaden sind in den Erdgeschossen an allen Seiten Eingänge mit Hallen und weitere öffentliche Räumen angeordnet. In ihrem allseitig öffentlichen Charakter wird die Schule für das Leben im neuen Stadtteil eine wichtige Rolle spielen.
Erfahrungen und Erfindungen
Peter Märkli hat früh nach der Ausdruckskraft – der «Wirkung» – architektonischer Sprache gesucht. An der ETH in Zürich, wo Märkli in den 1970er Jahren studierte, wurde ihm diese Sprache nicht gelehrt, weshalb er die Schule kurz vor dem Diplom verliess. Märkli begann selbstständig zu arbeiten und forschte nach «der Grammatik» der Architektur. Dabei hatte er «immer Vorbilder». Wichtig wurden «ein älterer Architekt und ein Bildhauer».
Der in den 1990er Jahren verstorbene Bündner Rudolf Olgiati war der ältere Architekt. Seine Bauten sind stark von den griechischen Ursprüngen abendländischer Baukunst, Le Corbusiers Spätwerk sowie der bäuerlichen Kultur des Engadinerhauses geprägt. Von ihm hat Märkli gelernt, dass eine Säule «auf dem Land dicker sein muss als in der Stadt», dass ihre Masse nicht statisch bedingt sein darf, sondern vom Ort und dem Bau abhängig ist.
Der Bildhauer heisst Hans Josephsohn. Seine figurativen Skulpturen und Reliefs stellen immer wieder den Menschen dar. Das gesamte Oeuvre des mittlerweile über Achtzigjährigen variiert dieses Thema und zeigt, dass «man im Leben nur wenige Erfindungen macht». Die Arbeit in den Künsten ist ein stetes Herantasten an eine schwierige Schönheit.
Durch Geschichte sehen lernen
Das zeigt auch die Architekturgeschichte, mit der sich Märkli intensiv befasste. Er versteht sie als «eine Horizontale», wozu heute auch die klassische Moderne mit Le Corbusier und Mies van der Rohe gehört. Die Chronologie und der vermeintliche Fortschritt der Geschichte sind zweitrangig. Wichtig ist von Erfahrungen lernen zu können und das Bewusstsein, selbst Teil der Geschichte zu sein. Damit begreift man die eigene Arbeit als Ausdruck seiner Zeit, ein Zitieren vergangener Stilformen wird undenkbar.
Peter Märkli spricht zu den Studenten der ETH, wo er seit zwei Jahren Professor ist, von der unmittelbaren Wirkung archaisch-griechischer und romanischer Bauten, die ihn am Anfang seiner Arbeit faszinierten. Auch die «anonymen Bauten der Bauernkultur» besitzen diesen direkten, über die Sinne zugänglichen Ausdruck. Märkli glaubt auch für heutige Architektur an diesen sinnlichen Zugang, obschon «kein Busfahrer in seinen Häusern leben will».
Durch die Beschäftigung mit der alten Baukunst hat Märkli sehen gelernt. Damit wurde auch bewusst, welche Bedeutung die Proportion, «das Mass» in der Architektur besitzt («ein Gebäude ist sonst nie spannend»). Während heute kaum ein Architekt seine Bauten mit Hilfe eines Proportionssystems konstruiert, entwickelte Märkli ausgehend von den klassischen Verhältnissen des Goldenen Schnittes und des Triangulums für seine Entwürfe ein eigenes Masssystem, das auf der Achtelteilung aufbaut.
Ein Masssystem beschränkt die potentiell unendlich vielen Masse an einem Bau auf eine bestimmte Anzahl. Da alle Masse durch Teilung und Vervielfachung zusammen in Beziehung stehen, verschaffen sie einem Bau innen wie aussen optischen Halt, eine erzeugte Spannung macht ihn sogar schön. Für die praktische Arbeit erlaubt die Beschränkung auf wenige Mass- und Teilungsregeln, dass mehrere Architekten an Plänen arbeiten können, ohne dass ein Projekt zerfällt.
Robuste Schönheit
Die Fähigkeit zu sehen ist Voraussetzung zum Entwerfen. Im Wahr-Nehmen, dem Verstehen der Dinge macht man sich die Formen eigen. Erst dann kann mit Form gearbeitet, das heisst Ausdruck geschaffen werden. Schönheit schliesslich ist «ein Maximum an Ausdruck».
Bei Märkli beeindruckt insbesondere die Ökonomie der dazu verwendeten Mittel, sowohl im architektonischen wie im materiellen Sinn. Bei der im letzten Jahr fertig gestellten Orgel im Basler Münster hält ein feines, vorgehängtes Stabwerk die optische Wucht des Instrumentengehäuses zum Kirchenraum hin und im beschriebenen Schulhaus boten die Blechkästen der Lüftung «architektonischen Stoff» für eine Deckengliederung, welche die gemeinschaftlichen Empfangsräume der Klassenzimmer durch einen Kranz räumlich zentrieren.
Es wird von selbst klar, dass Schönheit in der Architektur nichts mit den in Lifestyle-Heftli präsentierten Bildern zu tun hat. Wirkliche Schönheit löst nach Märkli «heftige Gefühle» aus. Und sie ist robust, wie alle seine Bauten bezeugen. Ein Briefkasten aus dem Katalog kann die Architektur eines Wohnhauses ebenso wenig beeinträchtigen, wie der Coco-Cola-Automat in der Eingangshalle des Schulhauses.