Das Haus an die Strasse bauen

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PUBLIKATION ZÜRICHSEE-ZEITUNG, 4. AUGUST 2004
DAS HAUS AN DIE STRASSE BAUEN
ÜBER DIE SIEDLUNGSENTWICKLUNG AM ZÜRICHSEE

Die Siedlungen am Zürichsee haben sich in den letzten 100 Jahren nicht nur stark ausgeweitet, auch ihre Strukturen haben sich grundlegend gewandelt. Entstanden ist eine «unsichtbare Stadt», geformt von heute gänzlich urbanen Lebensweisen. Dabei dominieren private und privatisierte Räume die Agglomeration am Zürichsee. Das Verlangen nach öffentlichen Räumen bleibt bestehen. Der Beitrag möchte zu einer aktualisierten Siedlungsplanung anregen, welche heutigen Lebensformen sowie öffentlichen Räumen mehr Beachtung schenkt. Voraussetzung ist das Vertrauen in eine positive Entwicklung der eigenen, nun eben urbanen Kultur.

Die Attraktivität der Zürichseeregion ist ungebrochen. Das nach wie vor starke wirtschaftliche Wachstum der Stadtregion Zürich führt immer mehr Leute bei der Wohnraumsuche in die Seegemeinden. Der Nachfrage entsprechend wird gebaut und politische wie planerische Stellen sehen sich veranlasst, darauf zu reagieren. Vielerorts am See werden Ortsplanungen sowie Workshops zu Zentrums- und Entwicklungsfragen durchgeführt. Die Diskussionen führen leider meist nicht über eine Zahlen- und Zifferndebatte hinaus (Darf ein Haus 25 oder nur 20 m lang sein? usw.) und münden wie gewohnt in BZO- oder Verkehrsplanrevisionen. Neue Planungsweisen werden kaum erprobt und übergeordnete Fragen bleiben ungestellt: Woher kommen wir? Wie leben und sehen wir uns? Wohin wird sich unsere Gesellschaft entwickeln? Antworten bezüglich Konflikten zwischen öffentlichen und privaten Räumen und einer den heutigen Lebensweisen entsprechenden Siedlungsstruktur fehlen.

Landschaft mit urbanen Zügen
Für das Verständnis der Gegenwart ist ein Blick in die Vergangenheit aufschlussreich. Denn die Zürichseeregion verfügt über eine lange, aber auch konfliktreiche urbane Tradition, die bis heute nachwirkt. Einerseits besass die Landschaft seit dem Spätmittelalter urbane Züge: sie gehörte bereits damals zu den dicht besiedelten Gegenden Europas, verfügte bald über ansehnlichen Wohlstand und wurde früh industrialisiert. Am See entwickelte sich ein eigenes Selbstbewusstsein: in stattlichen Bauernhäusern und später in Villen nach städtischem Vorbild kommt der Anspruch, mit den Bürgern Zürichs gleichzuziehen, zum Ausdruck. Andererseits führte die Suche nach kultureller Eigenständigkeit dazu, dass das Streben nach urbaner Kultur von Misstrauen bis hin zu Abwehrreflexen gegenüber der Kernstadt geprägt war: das zeigte sich in Aufständen gegen zünftische Beschränkungen, Bestrebungen nach politischer Autonomie oder in der bis heute immer wieder geäusserten, diffusen Angst vor Verstädterung. Davon zeugt auch die Tradition einer starken Heimatschutzbewegung, die seit anfangs des 20. Jahrhunderts versuchte, der beschleunigten baulichen Entwicklung mit bewahrenden Absichten Einhalt zu geben.

Bruch in der Siedlungsentwicklung
Solche Absichten standen im Gegensatz zur folgenden Nachkriegszeit. Das «Wirtschaftswunder» brachte einer wachsenden Angestelltenschicht Wohlstand. Dieser führte zu hoher Mobilität, die es erlaubte, an verschiedenen Orten zu wohnen und zu arbeiten. Die Seegemeinden galten bald als attraktive Wohnorte. Die radikale Trennung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitorten und damit die Entstehung «spezialisierter Räume» brachten völlig neue räumliche Verhältnisse in die agrarisch geprägten Streusiedlungen am See. Die städtische Lebensweise der neuen Einwohnerschaft verlangte nach Privatsphäre, Ruhe und Anonymität; eine Kultivierung des Privaten zeichnet heutige Wohnformen aus. Einfamilienhäuser und Siedlungen mit Geschosswohnungsbauten liessen die Siedlungskerne in lockerer Bauweise verwachsen. Diese Neubaugebiete zeichnen im Vergleich zu den alten Siedlungen geringere Dichten, das Wegrücken der Gebäudefluchten von der Strasse, kleingliedrige Grünräume ohne Nutzcharakter («Abstandsgrün») sowie das Wohnen im Erdgeschoss aus. Die damals neue, bis heute gültige Baugesetzgebung machte diese Phänomene über Abstands- und Ausnutzungsregelungen zur Norm.

Private Räume
Damit konnten selten öffentliche Orte geschaffen werden. Von der Strasse zurückversetzte Häuser führten zu unkontrollierten Aussenräumen und das Wohnen in den Erdgeschossen privatisiert ganze Strassenzüge, indem intimste Verrichtungen in den gemeinschaftlichen Raum gedrängt werden. Die moderne Verkehrsplanung hat dieser Entwicklung mit der Einführung von Sackgassen Vorschub verschafft. «Wohnstrassen» privatisieren ganze Quartiere und schaffen «blinde Flecken» im Gemeindeterritorium; wer hier nicht wohnt, betritt diesen Raum nicht. Es erstaunt nicht, dass wir bei der Frage nach «Ort» an die alten Siedlungsteile denken, wo die Häuser dicht beisammen an der Strasse stehen und die öffentlich genutzten Erdgeschosse der Zeit angepasst werden konnten. Neubaugebieten dagegen werden kaum ortsbildende Qualitäten zugetraut. Auf die heute als Kernzonen ausgewiesenen Siedlungsteile lastet deshalb ein immer stärkerer Nutzungs- und Erwartungsdruck, was in den vielerorts geäusserten Bedürfnissen nach einem «Zentrum» zum Ausdruck kommt. Demnach werden Kernzonen «authentisch herausgeputzt», denkmalpflegerisch vakuumiert und so in künstliche Erlebniswelten mit «Scheinöffentlichkeit» verwandelt. Autofreie Zonen werden paradoxerweise nicht öffentlicher, sondern «privater»; wer dort nicht flanieren oder einkaufen will, hat nichts verloren.

Neue Perspektiven
Eine beflissene «Erfüllungspolitik» hat eine Hinterfragung der modernen Baugesetzgebung sowie einer eingespielten Planungspraxis bis anhin unterlassen, obschon gerade unsere «abstrakten» Baugesetze ein Zeitprodukt darstellen, das unter anderen Vorzeichen entstanden ist. Auch für die Verkehrsplanung bestehen beispielsweise mit Tempo-30 veränderte Voraussetzungen. Eine Abkehr vom Organisationsprinzip der hierarchischen «Baumstruktur» mit Sammel- und Erschliessungsstrassen hin zu einer «Netzstruktur» mit durchgehenden, gleichwertigeren Strassen würde für viele Orte belebtere Aussenräume bedeuten. Wollen die Seegemeinden nicht ausschliesslich zu besseren Wohnquartieren der Stadt Zürich werden, könnte also eine unverklärte Prüfung der gängigen Praxis – was einer Befragung des «Selbstbildes» gleichkommt – neue Handlungsräume eröffnen. Dem Erkennen, dass die Seegemeinden Teil einer erweiterten, «unsichtbaren» Stadt und ihre Einwohner – etwa ein Computerspezialist, der in einem Weltunternehmen arbeitet, Theater besucht und seine Kleider bei Prada kauft – zu Städtern geworden sind, folgt ein Abstreifen der latent vorhandenen Angst vor Verstädterung; «Stadt» ist omnipräsent und keineswegs zerstörerisch. Damit eröffnen sich auch neue Perspektiven hinsichtlich der Schaffung öffentlicher Räume, die paradoxerweise in den Kernstädten heute besser funktionieren als in «zwischenstädtischen» Regionen.

Ohne Haus keine Strasse
Ein Bewusstsein für die eigene Lebensweise offenbart, dass es sich bei den Seegemeinden nicht mehr um «Dörfer» handelt, assoziiert der Begriff nicht nur ein paar alte Fassaden- sondern vielmehr längst verschwundene Gesellschafts- und Wirtschaftsformen. Dem trotz höchsten Ansprüchen an Privatsphäre und Ruhe immer noch starken Verlangen nach öffentlichen Räumen und Orten der Identifikation kann deshalb nicht glaubhaft mit Dorfbrunnen, Dorfplätzen und Kopfsteinpflaster begegnet werden. Obschon einzig noch die «heissen Drähte» der Verkehrsinfrastrukturen, beispielsweise eine S-Bahn-Station, die für Öffentlichkeit notwendigen Publikumsfrequenzen herzustellen vermögen, muss es zum Wohl der Gesellschaft dennoch einen Anspruch geben, auch allen anderen Aussenräumen Qualität und öffentlichen Charakter zu verleihen. Hinter Gebüsch und Zyklopenmauerwerk versteckte Bauten werden diesem Anspruch seit gut fünfzig Jahren nicht mehr gerecht. Sie bilden keine Strassenräume, die öffentliches Leben zulassen. Eine simple, aber wesentliche Forderung könnte also verlangen, die Häuser an die Strasse zu bauen.