Picturesque

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Siehe auch: Publikation Modell und Bild (2011)

PUBLIKATION
THE PICTURESQUE – SYNTHESE IM BILDHAFTEN
ETH INSTITUT FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR 2008

Eine England-Reise

Anlass zu diesem Heft gaben die Eindrücke einer sechswöchigen Reise, die durch ein Stipendium der Ernst-Schindler-Stiftung ermöglicht wurde. Ziel der Reise war England, eine Gegend die wir aus eigener Anschauung bis dahin kaum kannten. Bei der Vorbereitung liessen wir uns deshalb von vagen Ahnungen leiten und versuchten den thematischen Rahmen möglichst weit zu fassen. Wir umrissen unser Interesse im Beziehungsfeld von Architektur und Landschaft, das uns gerade in Bezug auf England suggestiv erschien.

Architektur und Landschaft stehen zwar immer in Verbindung, denn Architektur wird stets durch «Landschaft» gefasst und umgekehrt ist Landschaft als Vorstellungskategorie erst durch die «Verräumlichung der Welt» entstanden, doch im englischen Kontext fanden wir bezüglich diesem Verhältnis eine spezifische und ausgeprägte Situation. Die besondere Bedeutung von Landschaft in England mag in der räumlichen Begrenztheit der Insel begründet sein, die früh eine beinahe flächendeckende Kultivierung und Gestaltung zur Folge hatte. Die rasche Industrialisierung Englands und damit einhergehend eine weitgehende Verstädterung der Gesellschaft haben verstärkt den ästhetischen Wert von Landschaft ins kulturelle Bewusstsein eingeschrieben. Eine aufklärerische Bewegung fand in der naturnahen Landschaft ihre politischen Ideale widerspiegelt und die Romantik hat sie mit Sehnsuchtsmomenten unterschiedlichster Färbungen überlagert. Der über Jahrhunderte gewachsene, grosse Wohlstand einer gesellschaftlichen Elite erlaubte es, Landschaft frei von utilitaristischen Zwängen zu gestalten. Sie hat deshalb auch früh einen gegenüber der Architektur autonomen Status erhalten, was zum einen die englische gegenüber der französischen Situation «modern» machte, andererseits Voraussetzung für ein gleichwertiges «Gegenüber» von Architektur und Landschaft darstellt.

Zahllose Bauten, Parkanlagen und Gärten sowie Stadtplanungen der letzten drei Jahrhunderte bestärken den Eindruck, dass in England Architektur und Landschaft als «wechselseitig bedingtes Nebeneinander» gedacht werden und sich gewissermassen gegenseitig komplettieren. Diese wechselseitige Bedingtheit entdeckt man nicht nur in städtebaulichen Entwürfen und architektonisch-volumetrischen Verklammerungen von Bauten mit Natur, sondern auch in vielfältigen formalen Bezügen und strukturellen Verwandtschaften von Architektur und Naturform. Dabei sind insbesondere die Cluster-Prinzipien zahlreicher Bauten der Arts-and-Crafts-Bewegung sowie Projekte der Nachkriegszeit respektive des New Brutalism zu erwähnen, versteht man den Cluster als ein Ordnungsprinzip, das ähnlich wie Strukturen in der Natur «wachsen» kann. Auch bezüglich des Massstabs entwickelte die englische Tradition eine enorme Varianz. Diese reicht vom Architekturfragment im Landschaftspark über das Landhaus mit Garten und die durchgrünte Siedlung bis hin zum städtebaulichen Entwurf. Gerade in der städtebaulichen Theorie und Praxis leistete England Bemerkenswertes. Die Idee der Gartenstadt ist dabei wohl der bekannteste englische Beitrag. Er fand weltweite Verbreitung und behielt seine Bedeutung mindestens bis zur Realisierung der New Towns in der Nachkriegszeit bei.

Hintergrund des Interesses

Das Interesse am Themenkomplex um Architektur, Landschaft und Natur erklärt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller architektonischer und städtebaulicher Fragestellungen. In zahlreichen zeitgenössischen Entwürfen spielen Naturformen und -analogien eine zentrale Rolle, wobei bewusst die Grenzen der Architektur ausgelotet und verwischt werden. Auch uns interessieren jene Momente, wo das Architektonische ins Natürliche übergeht respektive das Tektonische ans Malerische grenzt. Es geht dabei nicht nur um die Nutzung eines enormen ästhetischen Potentials, sondern letztlich um das alte Bedürfnis, Kultur und Natur miteinander zu versöhnen, was in einer postagrarischen Zeit einlösbar scheint. Dabei ist gewissermassen symptomatisch zu beobachten, wie sich die Landschaftsarchitektur zu einer der Architektur gleichberechtigten Disziplin entwickelt und ihr eigenes Terrain (zurück-)erobert. Im Städtebau und in der Raumplanung manifestieren sich die Verwischung von Kunst- und Naturform im Verschwinden des Antagonismus von Stadt und Land. Es ist in weiten Teilen Europas eine «totale Landschaft» entstanden, welche mit dem traditionellen Instrumentarium des Städtebaus nicht mehr gestaltet und geplant werden kann. Mancher Ansatz bei der Gestaltung unserer Agglomerationen geht von einer totalen und «harmonischen» Durchdringung von Siedlung und Landschaft aus. Wie bei der Gartenstadt sollen die Vorzüge von «Stadt» und «Landschaft» vereint werden. Dabei offenbart unsere Zeit ein gewandeltes Naturverständnis, wobei wiederum Parallelen nach England gezogen werden können. Zahlreiche so genannte Renaturierungen der jüngsten Zeit zeigen, dass es heute im Umgang mit Landschaft wohl eher um «Poetik» statt um «Fortschritt» geht; die technische Beherrschung der Natur tritt mehr und mehr in den Hintergrund und macht einem malerischen Naturbild Platz – man wünscht sich ein «Utopia im Hier und Jetzt». Schliesslich steht diese Recherche in Beziehung zu unserer Arbeit über den Garten von Bomarzo, «landschaftlichen» Projekten, die wir am ETH Studio Basel entwickelten, sowie Entwürfen aus unseren Architekturbüro, wo uns genau dieses In-Beziehung-setzen von Architektur und Landschaft und die Grenzbereiche von Architektonisch-tektonischem und Natürlich-malerischem interessierte.

Versuchsanordnung
Die Absicht der Reise bestand darin, in einem «Querschnitt» durch drei Jahrhunderte und verschiedene Massstäbe dem spezifisch englischen Umgang von Architektur mit Landschaft nachzugehen. Bei unseren Recherchen haben wir bald bemerkt, dass dabei dem Begriff des «Picturesque» besondere Bedeutung zukommt. Der Begriff hat in England anders als im deutschen Sprachgebrauch mehr als nur eine umgangssprachliche Relevanz: er beschreibt vielmehr eine Kategorie der Ästhetik und – so vermuten und behaupten wir – ein gestalterisch-konzeptionelles Verfahren, das in England eine bis heute fortwährende Tradition nachzeichnet. Dieses Heft versucht den Entwicklungslinien des «Picturesque» anhand einzelner Projekte nachzugehen und dabei das angesprochene entwerferische Potential manifest zu machen. Dieses Unterfangen ist zum einen belegbar, gleichzeitig aber auch bewusst spekulativ angelegt: es ist ein Versuch mit offenem Ausgang.

(aus der Einleitung der Publikation)