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Siedlung Vogelsang
Winterthur
Projektwettbewerb, 2014, 2. Preis

Stadtraum und Quartier
Der Standort der Siedlung Vogelsang liegt, direkt an den Gleiskorridor angrenzend, an einer für Winterthur identitätsstiftenden Lage. Das heutige Erscheinungsbild des gesamten Quartiers wird charakterisiert durch die Vorstellungen der Gartenstadt und gilt als historisch bedeutsam. In die Topographie eingebettete, freistehende Häuser oder Zeilenbauten von maximal drei Geschossen und grosszügigen Gärten prägen bis heute den Vogelsang. Die gesamte Bebauung aus dem Jahr 1911 ist mit seinen schleifenartigen Quartierstrassen, den Vor- und Nutzgärten sowie einer sich an ländlichen Vorbildern orientierenden Architektur ganz den Gartenstadtidealen von Eduard Howard oder Robert Owen verpflichtet. Dank seiner prominenten Lage hat der Vogelsang massgebend zur Identität von Winterthur als Gartenstadt beigetragen.
Indem die Parzelle direkt am Gleiskorridor durch Ersatzneubauten neu definiert werden kann, stellt sich die Frage ob Winterthur an dieser Stelle einen „Stadteingang“ mit einer neu ausgerichteten Identität erhalten soll. Das vorliegende Projekt verneint diese Idee und sucht vielmehr eine subtile Einordnung und Weiterentwicklung der bestehenden Identität. Dahinter steht die Überzeugung, dass gerade darin das Alleinstellungsmerkmal von Winterthur besteht. Unterstützt wird diese Absicht durch den Umstand, dass zwischen Vogelsang und Bahnhof, auf der ganzen Länge der Vogelsangstrasse, die bestehende Bebauungsstruktur infolge kleinteiliger Privatparzellen und unter Schutz stehender Reihenhauszeilen sich kaum ändern wird. Eine neue Identität des gesamten Gleiskorridors ist somit unwahrscheinlich. Die Projektverfasser sind der Meinung, dass gerade die bauliche Homogenität des gesamten Quartiers die städtebauliche Qualität dieses Teils von Winterthur ausmacht.

Baukörper und Aussenraum
Die Neukonzeption der Bebauung im Vogelsang misst sich an den Eigenschaften des übergeordneten gartenstädtischen Ensembles. Maximal viergeschossige Baukörper mit Einschnitten in den oberen Geschossen stehen für einen starken Gartenbezug der Bauten. Sechs, dem Verlauf der Topographie folgende Häuser bilden eine, die Tiefe des Grundstücks ausnützende Spange und generieren Aussenräume mit unterschiedlichen Identitäten. Durch die längs liegenden Zeilen können topographische Höhenunterschiede innerhalb der Bauten ausgeglichen werden. Im Bereich des Ideenperimeters soll die Spange mit einem nördlichen Kopf abgeschlossen werden, wobei die vorgeschlagene Konzeption auch mit der heutigen Situation harmoniert und keinen Druck für einen baldigen Ersatz ausgelöst wird.
Übersichtlichkeit und Orientierung im Quartier paaren sich mit «gärtnerischer» Erscheinung und Rückzugsräumen im Kleinen. Das Erschliessungssystem gliedert sich primär in hangparallele Wege und Rampen sowie vertikale Treppenläufe. Im Innenraum der Siedlung werden verbreiterte Weg- und Platzflächen als Chaussierungen eingearbeitet. Sie bilden Gemeinschafts- und Spielorte. Stützmauern werden gezielt und möglichst minimal eingesetzt. So sind in der zentralen «Linse» Bänder aus Kratzbetonmauern eingewoben, um Topografie, Bepflanzung und Spielwert zu einer Einheit zu verweben. Grossblättrige, hellgrüne Catalpa und Faassen’s Black Spitzahorne unterstützen die Intensität der flächigen Staudenpflanzungen, die gegenüber konventionellen Rasenböschungen wenig Pflege benötigen. Kieswege, Heckenfragmente und Blütensträucher gliedern unaufdringlich die individuellen Vorbereiche der Wohnungen zum Hof. Die strukturelle Dichte dieser Randbereiche steht im Kontrast zur Grosszügigkeit des langen Innenhofes.
An der Schaltstelle zur Erweiterungsetappe ist ein Quartiersplatz angelegt, der mit der zweiten Etappe vergrössert werden kann. Damit ist das Zusammenwachsen der Etappen gegeben und der Platz bezieht sich in seiner kanzelartigen Anlage auf andere Orte im Quartier, beispielsweise an der Jonas-Furrer-Strasse. Die Aussenterrasse des Gemeinschaftsraums ist mit Hecken gefasst und durch Blutpflaumen ausgezeichnet, wodurch eine weitere Differenzierung und verbesserte Nutzbarkeit der Gemeinschaftsbereiche erreicht wird.
Zierkirschen und Blasensträucher begleiten den Wiesenhang längs dem Püntenweg sowie talseitig die Wiesenflächen zur Unteren Vogelsangstrasse. Niedrige Gartenmauern begleiten beide Räume, um die Nutzbarkeit der Hanglage angemessen zu erhöhen.
Die am Südrand angeordneten Kindergarten-Aussenräume sind, analog zur Gartenterrasse des Gemeinschaftsraums, durch Hecken gefasst auf Geländeterrassen angeordnet. Vereinzelte Kirschbäume und Eichen vermitteln zum offenen Schlittelhang und Waldrand.

Erschliessung
Um den Püntenweg in seiner heutigen Form belassen zu können, wird die Erschliessung der oberen Zeile neu ab der Vogelsangstrasse gelöst. Die Rollstuhlgängigkeit wird sichergestellt, indem alle Hauszugänge ab der unteren Vogelsangstrasse mit höchstens 6% Neigung ausgebildet werden. Zusätzlich sind beim Gemeinschaftsraum mit einem Lift alle Niveaus von der Tiefgarage bis zum Püntenweg erschlossen. Über die zwei Meter breiten Wege wird die Post in der ganzen Siedlung bis in alle Eingangshallen verteilt. Durch die beiden breiteren Rampenvorplätze an der Unteren Vogelsangstrasse wird die Zulieferung für Kurierdienste und Zügelautos gelöst. Die Veloabstellplätze befinden sich im Tiefparterre der jeweiligen Häuser. Indem die Hauseingänge der Wohnungen am Püntenweg auf der Hofseite liegen, wird die maximale Schlauchlänge für die Löschfahrzeuge ab der Unteren Vogelsangstrasse eingehalten. Zwei zentrale Ausgänge aus der Tiefgarage ermöglichen einen öffentlichen Zugang, ohne dass die Wohnungstreppenhäuser benutzen werden müssen.

Häuser und Wohnungen
Entlang der Vogelsangstrasse werden Geschosswohnungen vorgeschlagen wobei jedes Geschoss einen unterschiedlichen Bezug zum Garten hat. Ist es im Erdgeschoss der ebenerdige Gartensitzplatz, so verfügt die Wohnung im ersten Obergeschoss über einen grossen nicht überdeckten Balkon und die obersten Wohnungen über eine eigene Terrasse. Die Wohnungen zeichnen sich durch einen gut proportionierten Gemeinschaftsbereich mit Eingangshalle, Wohn- und Essbereich sowie einer Küchennische mit angelagertem Reduit aus. Um den Anforderungen an den Lärmschutz zu entsprechen, können alle Zimmer von der Strassen abgewandten Seite belüftet werden.
Am Püntenweg werden Wohnungen konzipiert die vom beidseitigen Gartenbezug profitieren. Das Teppenhaus, welches als Zweispänner die grossen Wohnungen am Püntenweg erschliesst, verbindet den Hofraum mit dem Grünraum der Pünte und unterstreicht die Durchlässigkeit dieser Zeile. Alle Wohnungen entwickeln sich über die Diagonale, von einem grosszügigen Entrée über die zentrale Wohn-/Essküche zum Wohnraum. Bei den Maisonettwohnungen des Gartengeschosses liegt der Wohnraum auf dem Niveau der Pünte, sodass auch diese Wohnung beidseitig ausgerichtet ist und sich Blickbezüge dem Hangverlauf folgend ergeben.
Studentenwohnungen werden neu sowohl in der Pünten- und der Vogelsangzeile angeboten. Der Kindergarten und die Krippe sind im Haus am südlichen Kopf der Spange platziert. Über eine Laube mit Split-Level-Erschliessung wird der gedeckte Aussenbereich wie auch die Rollstuhlgängigkeit abgedeckt.

Architektonischer Ausdruck und Materialisierung
Entsprechend dem städtebaulichen und volumetrischen Thema suchen die Häuser einen Ausdruck, der die bestehende Homogenität des Quartiers fortsetzt, gleichzeitig aber auch eine eigene Identität als Siedlung entwickelt. So werden einerseits einzelne Motive und Stimmungen aus dem Kontext wie zum Beispiel das dünnhäutige Fassadenkleid oder die Ausbildung eines Daches aufgenommen und zu einem neuen, eigenständigen Ausdruck verdichtet. Die Häuser erhalten einen unterschiedlich hohen Sockel, darüber ein Kleid aus eingefärbten Eternitplatten und als Abschluss ein vorstehendes Pultdach mit Eternitdeckung. Um die Plastizität der Volumen zu betonen werden die Gebäudeeinschnitte und das Dachgeschoss mit einer ockerfarbenen vertikalen Eternitschalung vorgeschlagen. Die graublau bekleideten Lifteinschnitte strukturieren die geschwungene Fassade entlang der Vogelsangstrasse. Um den Gartenbezug zu stärken wird als Fenstertyp ein bodenebenes Kreuzfenster mit einem 30 Zentimeter hohen Sturz gewählt. Die abgestützten Balkone sollen aus dunkel einbrennlackiertem Stahlblech mit eingelegten, vorfabrizierten Betonplatten konstruiert werden. Die Absturzsicherung aus Maschendraht sucht ebenfalls den inhaltlichen Bezug zum Garten. Die Tragstruktur wird als konventioneller Massivbau in Ortbeton und Backstein erstellt. Der nichttragende Holztafelbau bei der Aussenfassade und dem Dach ermöglicht eine hervorragende Wärmedämmung bei gleichzeitig schlanker Konstruktionsstärke.

 

Mitarbeit Wettbewerb
Peter Baumberger, Karin Stegmeier, Ron Edelaar, Elli Mosayebi, Christian Inderbitzin, Lukas Burkhart, Isabel Fischer Perez-Lozao

Zusammenarbeit
Baumberger Stegmeier Architektur (BS+EMI Architektenpartner AG)

Bauherrschaft
Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Winterthur

Landschaftsarchitekt: Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau GmbH, Zürich
Bauphysik: durable Planung und Beratung GmbH, Zürich

Publikation
Hochparterre Wettbewerbe 1/2015